Der Unfall und mein Weg danach

„Ich fahr noch mal ’ne Runde mit dem Rad“, rief ich, griff den Garagenschlüssel, und war schon auf der Treppe.

Ein ganz normaler Arbeitstag lag hinter mir. Gleich am Morgen die Diskussion mit einem Juniorprofessor über die Vernetzung von Energieverbrauchern und danach meine Vorstellung am Lehrstuhl für Marketing. Ein Gespräch über Kooperationsmöglichkeiten beim Anschub unseres Start-ups, das wir zusammen mit einem Stadtwerk und Studenten aus der Wiege gehoben hatten. Der Rest des Tages war mit den üblichen Projektarbeiten vergangen: Telefongespräche, Vorbereitung von Meetings, E-Mails, Abrechnungen, Planungen und dergleichen. Jetzt war es Nachmittag geworden und gerade noch genügend Zeit, die Nase in den Wind zu stecken.

Für einen 25. Februar war das Wetter ganz okay. Die Straße war trocken und hinter grauen Wolken spitzte da und dort sogar ein Fetzen blauen Himmels hervor. Wenn ich jetzt nicht sofort losführe, wäre es zu spät.

„Denk an die Gans, bleib nicht zu lange“, rief Kathrin mir noch hinterher. „Du hast es versprochen!“

Für den nächsten Tag hatten wir zu einem schon lange geplanten und immer wieder verschobenen Gansessen eingeladen. Backpflaumen, Mais, Knödelpulver und andere Zutaten hatte ich bereits gekauft. Ich musste nur noch dem Rezept folgen, die Masse in die Gans füllen, die Öffnung vernähen und alles in den kühlen Keller bringen, bereit für den Backofen morgen Abend.

 „Sie liegt im Keller und ist schon aufgetaut“, rief ich. „Ich mache mich gleich daran, wenn ich zurück bin und geduscht habe. Um acht ist alles fertig“.

Ich schaute auf die Uhr, jetzt war es vier. Die winddichte Jacke an, hinunter in die Garage, das Rennrad herausholen, Radschuhe und Helm, alles das würde vielleicht noch einmal zehn Minuten dauern. Um halb sechs wäre ich zurück, würde duschen und mich in Ruhe mit der Gans beschäftigen. Danach vielleicht noch einmal Schreibtisch, um Projektthemen zu bearbeiten.

Ein abwechslungsreicher Tag: Immer etwas vor und nie langweilig, so liebte ich es. Nichts deutete darauf hin, dass mir in diesem Leben nicht einmal mehr 90 Minuten bleiben würden.

Der erste Handgriff gilt dem Licht und flutet den Deckenstrahler. Die vorher im Dämmerlicht nur schemenhaft erkennbaren Gerätetürme springen in brutalem Kontrast hervor, als machten sie sich für neue Einsatzbefehle bereit.

„Schocklage, Ringerlactat, halber Liter im Schuss!“

Noch während der Arzt seine Anweisungen gibt, haben die beiden Pfleger bereits den Griff am Fußende des Betts gepackt und in die Höhe gezogen. Trendelenburglage, jeder Ersthelfer kennt diese Schockmaßnahme. Mit dem Kopf nach unten und den Beinen nach oben drückt die Schwerkraft Blut aus dem größten Körperspeicher – den Venen – und zurück ins Herz.

Eine markerschütternde Sirene hat Arzt und Pfleger hochgeschreckt, zum Sternlauf ins Patientenzimmer dirigiert und tönt noch immer.

Puls 140, Systole 70 und fallend, Schockindex definitiv im kritischen Bereich.

Ein Pfleger hängt den Infusionsbeutel ein und öffnet das Ventil, maximaler Durchfluss.

Wird es reichen?

Die noch immer gellende Sirene verstummt erst jetzt, nachdem ein Pfleger daran denkt, den Alarm zu quittieren.

Die Pfleger und der Arzt stehen schweigend am Bett.

Puls 144, Blutdruck 68.

Erst jetzt bemerkt der Arzt, dass Kathrin noch im Raum ist, daneben ihr Begleiter. Sie hatte den hohen Puls zuerst gesehen und war im Begriff, den Pfleger zu rufen, als der Alarm losging. Seitdem haben beide kein Wort gesagt.

„Wir würden Sie bitten, für einen Moment den Raum zu verlassen.“

Jetzt keine Ablenkung, keine Fragen, kein unnötiges Risiko durch mangelnde Konzentration.

Puls 148, Blutdruck 67.

„Wir erhöhen das Dopamin“, der Arzt wendet sich zum Pfleger. „Wie ist die Dosis jetzt?“

Der Pfleger schaut auf das Display: „Zehn Gamma.“

„Geh aufs Doppelte!“

Nervös blickt der Arzt auf die Uhr. Maximal 10 Minuten. Die nächsten Schritte?

Die Zeit nutzen, weitere Informationen sammeln.

„Was ist passiert?“

„Septisches Koma vielleicht? Gib mir noch mal die Akte!“

Der Arzt blättert durch die Seiten, murmelt: „Stumpfes Bauchtrauma, Illiumperforation, erhöhte Entzündungswerte. Eine Peritonitis?“ Dann laut: „Hol mal den Ultraschall!“

Der Arzt drückt glibbriges Kontaktgel auf den Sensor und führt diesen in langsam kreisenden Bewegungen erst über die Seite des Patienten, dann den Bauch.

„Hier! Freie Flüssigkeit!“ Soll er eine Drainage legen lassen? Er fährt zum Unterleib, sucht dort nach Hinweisen.

Da war doch was am Darm, ist dies hier jetzt das klinische Korrelat?

„Ist das Ringerlactat durch?“

„Ja.“

„Dopamin läuft?“

„Doppelte Rate“, der Pfleger überlegt: „Sollen wir FFP geben?“

Fresh Frozen Plasma, das könnte eine Idee sein.

„Mach einen Beutel warm!“

Der Pfleger verschwindet, Türen klacken, ein Klingelton. Eine kleine mit Raureif überzogene dampfende harte Tafel hat sich in der Mikrowelle in einen schlabbrigen Beutel verwandelt. Sein Inhalt ist warm und schimmert grünlich, fast wie Olivenöl: Blutplasma im Gegenwert von einem halben Liter Vollblut.

„Lass uns noch fünf Minuten warten!“

Der Pfleger hängt den Beutel in den Galgen und legt den Schlauch neben den letzten freien Zugang am zentralen Venenkatheter, verbindet ihn aber noch nicht.

„Wie siehts aus?“

Puls 140, Blutdruck 70. Vielleicht haben wir Glück.“

Gebannt blicken drei Gesichter auf einen Monitor und zwei Zahlen.

Puls 138, Blutdruck 77.

Puls 125, Blutdruck 85.

Puls 105, Blutdruck 100.

„Schockindex bei eins“, der Arzt atmet tief. „Wir sind durchs Gröbste durch!“

„Dopamin zurückfahren?“

„Lass uns noch zehn Minuten beobachten!“ Wieder schaut der Arzt auf seine Uhr. Seit dem Alarm sind 35 Minuten vergangen.

„Puls 95, Blutdruck 115“, der Arzt hängt den Plasmabeutel ab und reicht ihn zum Pfleger. „Es scheint, wir haben es geschafft!“

„Wie gehts weiter?“

„Ich schreibe den Bericht. Einer von euch bleibt noch zehn Minuten hier und stellt sicher, dass alles regulär bleibt. Dann wieder Normallage. Gebt mir Bescheid. Ich informiere dann die Besucher und lass sie wieder rein.“

Das Deckenlicht erlischt und lässt die neben dem jetzt wieder waagerecht stehenden Bett aufragenden Gerätetürme schemenhaft zurücktreten. Der Herzschlag hat sich auf 90 Pulse pro Minute eingespielt. Bei jedem Pieps zieht ein grüner Punkt seinen Lichtschweif über den Monitor und erhellt in gespenstisch gleichmäßigem Rhythmus das Gesicht des Patienten.

Die Lage scheint unter Kontrolle.

Wie lange diesmal?

Seit Tagen changierte der Himmel zwischen Nieselregen und Nebel und überzog die Stadt mit trübem Grau, in dem die Bäume keine Schatten warfen und ihre immer noch kahlen Äste verzweifelt in die Höhe streckten. Achtlos hatte der Winter den Frühlingsanfang vorüberstreichen lassen und verlängerte seinen Auftritt bereits seit Tagen mit monotonen Zugaben von Nässe, Frost und Dunkelheit.

Doch irgendetwas war geschehen. Bereits beim Öffnen der Tür fühlte sich die Klinik anders an. Wie immer hatte Kathrin das Auto einige hundert Meter vor dem Krankenhausgelände am Rand einer Kleingartenanlage geparkt, war an der zentralen Notaufnahme vorbeigelaufen und hatte den Eingang ins Kellergeschoss des Gebäudes C 010 genommen. Ein Gang führte sie im Dämmerlicht zu einer gläsernen Wandbarriere, dahinter einige Schritte im Hellen weiter und schließlich zu einer Welt, die dem normalen Besucher verschlossen bleibt, die Kathrin aber seit Wochen kannte: zur Intensivstation der Unfallchirurgie.

Nach dem Klingeln musste sie, wie jedes Mal, einige Minuten warten, bis die Tür geöffnet wurde. Der Pfleger erkannte sie sofort, grüßte kurz und verschwand gleich wieder. In gewohnter Routine wandte sich Kathrin nach rechts, tauschte ihre Winterjacke gegen den grünen Schutzkittel und wollte gerade zum Patientenzimmer gehen, als ihr ein Herr in den Vierzigern mit sorgenvollem Gesicht entgegenkam und zur Begrüßung die Hand hinstreckte. Der diensthabende Arzt? Kathrin hatte ihn noch nie gesehen.

„Guten Tag Frau Diedrich.“

Er kannte ihren Namen! Und überhaupt: Sonst wurde sie nie mit ihrem Namen angesprochen.

„Die MRT-Aufnahme vom Kopf ihres Mannes wurde inzwischen erstellt und ausgewertet. Ich würde gerne mit Ihnen die Ergebnisse durchsprechen.“

Sie hatten die Aufnahme bereits gemacht! Warum so schnell?

Weil der Aufwachprozess ungewöhnlich lange dauerte, hatten die Ärzte vorgeschlagen, eine weitere radiologische Untersuchung des Schädels zu machen. Noch gestern hatten sie beim Besuch darüber gesprochen: Eine MRT-Aufnahme sei geplant, möglicherweise könne man daraus einen Aufschluss über die Ursachen für den ungewohnt langen Verbleib im Koma bekommen. Wenn es so weit sei, werde sie Näheres erfahren.

Nun waren die Aufnahmen bereits erstellt und auch die Auswertung erfolgt.

„Ich habe einen Besprechungsraum für uns reserviert. Wir sind dort ungestört.“

Die sorgenvolle Miene und der Vorschlag, ihr das Ergebnis ungestört in einem Nebenraum zu erklären, konnten nichts Gutes bedeuten.

„Nehmen Sie bitte Platz.“ Der Arzt rückte ihr den Stuhl zurecht. „Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?“

Kathrin hatte jetzt keinen Durst.

„Wir haben uns die Ergebnisse der Aufnahmen sehr sorgfältig angeschaut,“ der Mann sprach mit Grabesstimme, „und ich möchte ganz offen mit ihnen reden.“

So schlimm also!

„Wir haben dunkle Flecken gefunden. Stellen im Kopf Ihres Mannes, an denen sich nachweislich etwas verändert hat. Zum Vergleich konnten wir eine CT Aufnahme vom 25. Februar heranziehen, die direkt nach dem Unfall erstellt worden war. Wir sahen damals keinerlei Anzeichen für ein Schädel-Hirn-Trauma oder anderweitige Verletzungen des Kopfes. Doch inzwischen hat sich etwas verändert. Die dunklen Flecken im Hirn sind neu.“

Der Arzt machte eine Pause, doch Kathrin war jetzt unfähig, etwas zu sagen. Nach einer Weile fuhr er fort.

„Wir nennen es disseminierte bihemisphärische Suszeptibilitätsartefakte mit kortikaler Beteiligung. Es könnte sich bei den Flecken um Blutungen handeln. Am wahrscheinlichsten aber um eine zerebrale Fettembolie. Die Ursache dafür könnte beim Einschlagen des Marknagels entstanden sein. Fetthaltige Partikel werden aus dem Innenraum des Knochens herausgedrückt und gelangen über die Blutbahn bis in den Kopf, wo sie sich an engen Stellen festsetzen können. Möglicherweise sind das die dunklen Flecken. Vielleicht auch Blutungen, Spätfolgen des Aufpralls, die zunächst nicht sichtbar waren. Wir können auch eine DAI nicht vollständig ausschließen, eine diffuse Axionenverletzung. Ein Hirntrauma, das durch den starken Aufprall beim Unfall entstanden sein könnte. Es ist möglich, dass derartige Schäden erst nach Wochen sichtbar werden. Die Flecken sind über den ganzen Kopf verteilt. Wir gehen davon aus, mit diesen dunklen Flecken eine mögliche Ursache für die Verzögerung beim Aufwachen gefunden zu haben.“

Wieder machte der Arzt eine Pause, und diesmal hatte Kathrin eine Frage.

„Was bedeutet das alles? Welche Auswirkung kann das haben?“

Der Arzt schaute sie sehr lange an, schien zu überlegen, wie er es formulieren sollte. „Sie sollten mit dem Schlimmsten rechnen,“ sagte er schließlich, die Augen fest auf sie gerichtet und sein Gesicht sehr ernst. „Wir können eine dauerhafte Schädigung des Hirns nicht mehr ausschließen. Möglicherweise wird sich der Aufwachprozess noch lange hinziehen. Vielleicht wird auch der Weg danach sehr schwierig sein. Es ist möglich, dass die Schädigungen so stark sind, dass Ihr Mann nurmehr ein sehr eingeschränktes Leben führen kann. Vielleicht werden körperliche Funktionen eingeschränkt bleiben, vielleicht auch mentale. Wir können nicht ausschließen, dass er permanente Betreuung brauchen wird. Leider. Möglicherweise in einer Einrichtung für Schwerstbehinderte.“

Das war zu viel!

Der Raum umkreiste den Arzt, ließ ihn und seinen sorgenvollen Blick in einem Strudel von Entsetzen untergehen. Das Echo seiner Worte verlor sich in einer Spirale der Verzweiflung, bis schließlich der Schock des Schreckens ihren bohrenden Fragen wich: Was blieb übrig? Wer kann helfen? Wie nur sollte es jetzt weitergehen?